Meine Gesundheit… Und was habe ich damit zu tun?

Diese Frage wirkt trivial und doch war sie der Beginn einer langen Entdeckungsreise für Frederick Matthias Alexander,
den Begründer der so genannten Alexander-Technik.

F.M. Alexander lebte am Beginn des 19. Jahrhunderts in Tasmanien (Australien) und hatte eine blühende Karriere als Schauspieler vor sich. Bei einer wichtigen Aufführung jedoch versagte seine Stimme. Er wurde heiser bis zu dem Punkt, an dem er die Vorstellung abbrechen musste. Darauf hin konsultierte Alexander mehrere Ärzte und erhoffte sich so eine Lösung für sein Problem zu finden. Es wurde ihm der Ratschlag erteilt eine Weile von seiner darstellenden Tätigkeit zu pausieren und eine Zeit nicht zu rezitieren.  Tatsächlich konnte sich so seine Stimme erholen und Alexander seine Arbeiten wieder aufnehmen.  So bald er aber wieder mit dem Rezitieren von Texten begann, wurde er erneut heißer. Darauf hin stellte Alexander seinem Arzt eine einfache Frage: „Kann es sein, dass ich beim Rezitieren etwas Spezielles mit mir mache, dass diesen Stimmverlust bewirkt?“ Sein Arzt antwortete darauf, dass diese Annahme höchstwahrscheinlich zutreffend sei. Also fragte Alexander weiter: „Können Sie mir verraten was es ist, dass ich da mache?“ Der Arzt konnte ihm keine Antwort darauf geben.

Diese Frage und die irritierende Abwesenheit einer befriedigenden Antwort waren die Auslöser für die jahrelange und penible Forschungsarbeit von Frederick Matthias Alexander, die schlussendlich zu einer Methode geführt hat, die heute unter dem Namen Alexander-Technik bekannt ist. Welchen Einfluss haben wir tatsächlich auf unsere Gesundheit? In wie weit sind wir selbst Zuständig für unser körperliches und geistiges Wohlbefinden?

Tatsächlich gibt es eine Vielzahl an Faktoren die sich auf unsere Gesundheit auswirken. Auf Wikipedia findet sich eine Liste von körperlichen, seelisch-geistigen und materiellen Faktoren für ein gesundes Leben. Darunter findet man Begriffe wie Ernährung, Bewegung, Schlaf, geliebt sein, Freiheit, Verbundenheit, soziale Sicherheit und zahlreiche andere Faktoren. Manche darunter können wir beeinflussen, andere hingegen kaum oder gar nicht. Ein Faktor begleitet uns aber durch unseren gesamten Alltag, ganz unabhängig davon ob wir schlafen oder wach sind. Das was uns begleitet sind wir selbst – die Art und Weise wie wir auf äußere und innere Reize reagieren, wie wir die Dinge tun, die wir tun wollen und vielleicht noch mehr die Art, wie wir Dinge tun, die wir nicht tun wollen.

Mit diesem „Selbst“, wie es funktioniert und reagiert, hat sich Alexander sein restliches Leben lang beschäftig. Eines seiner Bücher trägt daher auch den etwas sperrigen Namen „Der Gebrauch des Selbst“. Seine These lautet: Die Muster mit denen wir auf innere und äußere Reize reagieren, begleitet uns überall hin und haben einen maßgeblichen Einfluss auf unser Wohlbefinden und unsere Gesundheit. Alexander hat eine systematische und nachvollziehbare Methode entwickelt um diese Reaktionen zu beobachten, schädliche Verhaltensmuster zu erkennen und diese in Bezug auf den Menschen als Einheit zu verändern.

Wie kann man sich diesen konstanten Einfluss vorstellen, den wir tagein, tagaus auf uns selbst ausüben?

Vor kurzem hatte ich ein eindrückliches Erlebnis, dass mir einen Aspekt dieser Aussage klar gemacht hat. Ich habe mir in einem Stoffgeschäft ein größeres Stück Kunstleder gekauft, um damit meinen Massagetisch neu zu bespannen. Die Verkäuferin gab mir den Rat, das Kunstleder nicht zu lange zusammengelegt zu lagern – es würden sonst Falten entstehen die man nicht mehr aus dem Material herausbekommen würde.

Nach kurzer Zeit ensteht nur ein kaum sichtbarer Abdruck der ganz rasch wieder verschwindet.
Nach kurzer Zeit ensteht nur ein kaum sichtbarer Abdruck der ganz rasch wieder verschwindet.
Schon nach 10 Minuten entsteht ein gut sichtbarer Abdruck. Das Material braucht bedeutend länger um seine ursprüngliche Form wieder zu erreichen.
Schon nach 10 Minuten entsteht ein gut sichtbarer Abdruck. Das Material braucht bedeutend länger um seine ursprüngliche Form wieder zu erreichen.

Als mein Tisch fertig bespannt war habe ich ihn an ein Regal gelehnt und dabei einen kleinen Vorsprung übersehen. Nach einiger Zeit habe ich den Tisch dann wieder aufgestellt und konnte eine deutliche Druckstelle in dem Material vorfinden. Ich hatte Glück, die Zeitspanne unter Druck war nur kurz und das Material konnte bald wieder in seine ursprüngliche Form zurück finden. So ähnlich verhält es sich mit dem Druck den wir Tag für Tag auf unseren Organismus ausüben. Ein Nach-hinten-ziehen des Kopfes, ein Zusammen-ziehen der Schultern, ein eingesunkener Brustkorb, ein Nach-hinten-drücken der Kniegelenke… Alles Faktoren die einen Einfluss auf die innere und äußere Struktur unseres Körpers haben. Genau so wie Glas im Lauf der Zeit seine Form verändert, so ist auch unser Organismus in ständiger Veränderung begriffen. Sogar die Strukturen die wir für gewöhnlich als starr betrachten verändern ihre Form unter Belastung. In einem  Buch über die Arbeit mit Faszien wird dieser Vorgang folgender Maßen beschrieben:

 

Wirkt eine Belastung auf ein Material ein, dann deformiert sie es und dehnt dabei die Bindungen zwischen den Molekülen. Dies bewirkt einen leichten elektrischen Strom, der als piezoelektrische Ladung bezeichnet wird. Diese Ladung kann von Zellen in der Nachbarschaft wahrgenommen werden; die Bindegewebszellen sind in der Lage, darauf durch Verstärkung, Minderung oder Austausch interzellulärer Elemente zu reagieren. [...]

Dieser Mechanismus erklärt, warum die Füße von Tänzern nach einem Sommer-Trainingslager stabilere Knochen aufweisen: Das intensivere Tanztraining bedeutet stärkere Kräfte, die wiederum verstärkte piezoelektrische Ladungen erzeugen, die die Fähigkeit der Osteoklasten, den Knochen abzubauen reduzieren, während die Osteoblasten weiter Knochen anbauen. […]

Das Umgekehrte gilt für Astronauten und Kosmonauten, da durch das Fehlen der Schwerkraft kein ausreichender Druck auf den Knochen erzeugt wird: Die Osteoklasten gönnen sich ein Festmahl, was dazu führt, dass die aus dem Weltall zurückkehrenden Helden ihr Raumschiff im Rollstuhl verlassen müssen, auf den sie dann angewiesen sind, bis ihre Knochen wieder weniger porös sind.
Anatomy Trains, Myofasziale Leitbahnen, Thomas W. Meyers, Seite 19 ff.

 

Manche Belastungen wirken sich wie hier bei den Tänzern durchaus positiv und stärkend auf den Organismus aus, andere hingegen behindern die optimale Funktion und wirken sich somit negativ auf unser Wohlbefinden und letztlich auf unsere Gesundheit aus.

Wenn zum Beispiel der Kopf in Relation zum Rumpf ständig zu weit vorne gehalten wird und der Brustkorb einsinkt, müssen Muskeln im Rücken konstant arbeiten, um den Kopf daran zu hindern noch weiter nach vor zu sinken. Der Kopf hat immerhin circa 4 bis 5 Kilogramm! Dieser konstante Druck verändert die Beschaffenheit der Faszien in der Rücken Region – sie bilden eine Gurt-ähnliche, wenig-elastische Struktur um die Muskeln herum und es entsteht ein typischer Rundrücken. Der eingesunkene Brustkorb wirkt sich negativ auf die Atmung aus und erzeugt zusätzlich Druck auf die inneren Organe.

 


Die Art und Weise wie wir auf innere und äußere Reize reagieren, wie wir uns bewegen, wie wir sitzen, stehen, gehen und liegen wirkt konstant auf den sich ständig verändernden Organismus ein. Wir sind vielleicht nur begrenzt verantwortlich für den Zustand in dem wir uns befinden, wir können aber die Verantwortung für den weiteren Verlauf unserer Entwicklung bis zu einem gewissen Grad selbst übernehmen. Die Alexander-Technik bietet sich als hilfreiches Werkzeug an um diesen „Gebrauch des Selbst“ zu beobachten und gegebenen Falls so auszurichten, dass eine möglichst gute Koordination und Funktion wieder hergestellt wird, was zu mehr Wohlbefinden und einer besseren Gesundheit führt.

Nicht nur die so genannten körperliche Aspekte unseres Seins unterliegen diesem Gesetzt von ständiger Veränderung. Auch unser mentales Netzwerk ist in einem ständigen Umbau begriffen. Der bekannte Hirnforscher Gerald Hüther formuliert es so:

 

Nun zeigt uns aber die Hirnforschung, dass wir uns zu jedem Zeitpunkt unseres Lebens auch neu konstruieren können, indem wir irgendeines dieser alten motorischen, sensorischen oder affektiven Muster verlassen, also anders zu sehen, zu fühlen oder zu handeln beginnen, als bisher. Und wenn es gelingt, auf einer dieser Ebenen ein neues Muster auszubilden, so werden alle anderen Ebenen davon gleichsam «mitgezogen». Wenn wir damit beginnen könnten, die Welt anders als bisher zu 
betrachten oder anders zu denken, wenn es uns gelänge, nicht immer mit den gleichen Gefühlen auf dieselben Auslöser zu reagieren, oder vielleicht auch nur eine andere Körperhaltung einzunehmen, so hätte das enorme Folgen für alles, was auf der «Baustelle Gehirn» passiert. Dann würden nicht nur diejenigen neuronalen Verschaltungsmuster umgebaut, die an dieser neuen Leistung beteiligt sind, sondern ebenso auch alle anderen, die damit auf irgendeine Weise in Verbindung stehen.

Embodiment. Die Wechselwirkung von Körper und Psyche verstehen und nutzen, Gerald Hüther und weitere, Seite 93

 

Wenn wir damit beginnen die Prinzipien der Alexander-Technik im eigenen Leben anzuwenden, beginnt ein langsamer, selbstverantwortlicher aber nachhaltiger Prozess der Veränderung. Wir arbeiten im Sitzen, im Stehen, im Gehen – mit ganz alltäglichen Tätigkeiten und doch ist es, wie auch in dem Text von Hüther zu verstehen, eine Arbeit über den Körper am ganzen Menschen.