Das Selbst als fließenden Zustand begreifen

Wir lernen einen fließenden Zustand zuzulassen und uns auf einen Prozess der Entwicklung einzulassen. Das Richtige entsteht durch ein Weglassen von dem was wir eigentlich nicht brauchen – dem Festhalten an richtigen Positionen und richtigen Ideen.

„Wenn man aufhört, das Falsche zu tun,
stellt sich das Richtige von alleine ein.“
F.M. Alexander

In diesem Zitat von Frederick Matthias Alexander geht es nicht um moralische Bewertungskriterien. „Richtig“ und „Falsch“ beziehen sich hier auf die Verhaltensmuster mit denen wir auf die Anforderungen des Alltags reagieren. Es geht bei dieser Aussage um das, was mit uns geschieht, während wir uns auf dem Weg zu einem Ziel befinden. Ist die Art wie wir uns auf dem Weg zu diesem Ziel verhalten förderlich für unsere körperlichen und mentalen Prozesse?

„Everyone wants to be right,
but no one stops to consider if their idea of right is right.“
F.M. Alexander

Wie kann man beurteilen, ob die Art wie wir etwas tun, auf lange Sicht gesund ist? Ist unsere Sinneswahrnehmung ein geeignetes Mittel dafür? Reicht es sich darauf zu verlassen, ob man sich dabei „Richtig“ oder gut „fühlt“? Laut den Entdeckungen von F.M. Alexander ist dieses empfinden von „Richtig“ und „Falsch“ kein geeignetes Mittel um zu beurteilen, ob wir unsere Geist-Körper-Einheit bestmöglich einsetzen. Die Empfindung selbst wird vom guten oder schlechten Funktionieren dieser Körper-Geist-Einheit beeinflusst. Ein gewohnheitsmäßig schlechter Gebrauch, hat auch einen störenden Einfluss auf das, was unsere Empfindungen uns zurück melden.

Wer mehr darüber wissen will – vor kurzem gab es einen interessanten Artikel zu diesem Thema im Standard: Nichts geht über unsere Sinne und den gesunden Menschenverstand! - So ein Schmarrn!

Mit folgendem Beispiel aus meinem Alltag möchte ich diesen Zusammenhang verdeutlichen. Am liebsten esse ich Schokolade mit einem sehr hohen Kakaoanteil. Für mich ist diese Schokolade ein Hochgenuss und schmeckt süß. Auch meine Kinder haben sich mittlerweile daran gewöhnt, und essen kaum mehr andere Schokolade. „Normale Schokolade“ ist ihnen einfach viel zu süß. Wenn sie ein Stück dunkle Schokolade in die Schule mitnehmen, meinen die anderen Kinder, dass diese Schokolade extrem bitter sei und nicht gut schmecken würde. Durch den ständigen Konsum von Schokolade mit einem extrem hohen Zuckergehalt, hat sich die Sinneseinschätzung der anderen Kinder verstellt.

„When people are wrong,
the thing that is right is bound to be wrong to them.“
F.M. Alexander

Wen sich unsere Wahrnehmung so stark verstellen kann, wie können wird dann „Richtig“ und „Falsch“ in Zusammenhang mit unserer Koordination erkennen und uns in eine gesunde Richtung verändern?

„The experience you want is in the process of getting it.
If you have something, give it up.
Getting it, not having it, is what you want.”
F.M. Alexander

Viel hilfreicher als in den Kategorien „Richtig“ und „Falsch“ zu denken, ist es das ganze Selbst als einen fließenden Zustand zu begreifen. Wir wollen die bestmöglichen Mittel anwenden um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, ohne diese fließende Koordination des Organismus dabei zu beeinträchtigen. Fließend ist für mich in diesem Zusammenhang das entscheidende Wort. Es bezieht sich auf unsere ganze psycho-physische Einheit; auf die mentalen Prozesse unserer Aufmerksamkeit als auch auf die sogenannten körperlichen Prozesse.

In dem Buch „The Open Focus Brain“ von Less Fehmi wird diese Art die Aufmerksamkeit zu schulen und einzusetzen beschrieben. Ich finde, dass die darin enthaltenen Theorien zahlreiche  Parallelen zu den Entdeckungen von F.M. Alexander aufweisen.

Less Fehmi hat herausgefunden, dass es unterschiedliche Formen von Aufmerksamkeit gibt. Unsere Gesellschaft und unser Lebensstil fördern hauptsächlich einen engen und objektorientierten Aufmerksamkeitsmodus. Unser Nervensystem schöpft nicht sein volles Potential aus. Wir sind in gewisser Weise kontinuierlich in einer Art Alarmmodus, der sich auch anhand der Gehirnwellen nachweisen lässt. Less Fehmi ist davon überzeugt, dass unser Bewusstsein fähig ist verschieden Aufmerksamkeit-Modi miteinander zu kombinieren. Diesen fließenden und integrierenden Zustand nenn Less Fehmi „Open Focus Brain“.

Man kann zum Beispiel ein Buch lesen und gleichzeitig den Rand des Buches sehen, oder den Abstand der Zeilen, und den Abstand der einzelnen Buchstaben zueinander. Es ist auch möglich während dem Lesen die Geräusche in der Umgebung oder andere Sinneswahrnehmungen einfließen zu lassen. Es ist nicht nötig den ganzen Tag ausschließlich dem engen und objektorientierten Fokus Priorität zu schenken. Es erfordert Übung die Aufmerksamkeit fließend zu halten, und unterschiedliche Modi in den Alltag zu integrieren.

Wir wollen in der Alexander-Technik einen gerichteten, fließenden Zustand erreichen. Dieser Zustand umfasst die sogenannten körperlichen als auch die so genannten geistigen Aspekte unserer psycho-physischen Einheit. Wir bieten ein Training an, dass uns auf einer praktischen und konstruktiven Weise dabei hilft diese Fähigkeiten, die uns allen innewohnen, zu entwickeln. Was hat das mit der Idee von Richtig und Falsch zu tun? Richtig ist, dass es in diesem Sinn kein „Richtig“ gibt. Das ist vielleicht eine triviale Aussage, aber auf unser Leben umgesetzt bedeutet es, dass wir die Fähigkeit lernen müssen mit diesem fließenden Zustand zu leben und in diesem Fluss zu wachsen.

Wir lernen einen fließenden Zustand zuzulassen und uns auf einen Prozess der Entwicklung einzulassen. Das Richtige entsteht durch ein Weglassen von dem was wir eigentlich nicht brauchen – dem Festhalten an richtigen Positionen und richtigen Ideen.

“Change involves carrying out an activity against the habit of life.”
F.M. Alexander